Feuilleton Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.2004, Nr. 130, S. 37



Der Himmel über der Ruhr
Neu und altehrwürdig, Konzerthaus und gute Stube: Essen eröffnet seine Philharmonie im Saalbau


Als Willy Brandt im Bundestagwahlkampf 1961 einen "blauen Himmel über der Ruhr" forderte, war das ein umweltpolitisches Versprechen. Der Steinkohlebergbau hatte seinen Zenit gerade überschritten und den langsamen, doch unaufhaltsamen Niedergang der Montanindustrie angestoßen. Immer mehr Zechen starben, die Arbeitslosenzahlen begannen zu steigen, die Städte zu schrumpfen, die Produktion und mit ihr die Luftverschmutzung zu sinken. Universitäten wurden im Ruhrgebiet gegründet und Renaturierungsprogramme aufgelegt, ein Strukturwandel in Gang gesetzt, der mit der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (IBA) in den neunziger Jahren Modellcharakter gewann: der Zweibeiner aus Kohle und Stahl, transformiert zum Tausendfüßler.

Heute, mehr als vierzig Jahre später, ist die Luft im Revier so gut (oder schlecht) wie in anderen Großstädten auch, und die Staubwolken hängen nur noch in den Klischeebildern, wo sie sich länger halten als in der Wirklichkeit. Der blaue Himmel aber ist, da er keine reale Forderung mehr darstellt, zur Metapher für steigende Lebensqualität und mithin für eine Entwicklung geworden, in der gerade Kunst und Kultur neue Bedeutung zukommt: Gelten sie doch nicht mehr nur als das Gegenteil von Maloche, das der Regeneration dient, sondern als eigenständige Werte. Wer im Parkett der neuen Philharmonie Essen sitzt und gen Himmel blickt, schaut so unversehens in die Zukunft: Tiefblau leuchtet die Decke, wie es tiefer gar nicht möglich ist.

Das Gebäude, das das größte Konzerthaus des Ruhrgebiets beherbergt, ist neu und altehrwürdig zugleich. Denn die Philharmonie wurde als "Innerer Neubau" in den Saalbau gesetzt, dessen Kuppelsaal als modifizierter Rechteckraum erneuert und nach unten um ein Geschoß erhöht wurde. Das Parkett steigt "parabelhaft" in zweiunddreißig Reihen an, sechs folgen im Balkon, je zwei staffeln sich auf einer Galerie und zwei Rängen an beiden Seiten, um die an der Stirnseite als Schmuckstück prunkende Orgel, erbaut bei Kuhn in Zürich, einzufassen. Hinzu kommen fünf Reihen in der Apsis des Chores, so daß es der Saal auf insgesamt 1906 Plätze bringt. Ein rundes Schallsegel hängt über dem segmentweise absenkbaren Podium und betont - wie auch Farben und Materialien - die Verwandtschaft zur Kölner Philharmonie, die von denselben Architekten entworfen wurde: Das Kölner Büro Busmann + Haberer hatte Ende 1998 das Konzept vorgestellt und nach einem Gutachtenverfahren im Januar 2000 den Auftrag erhalten.

Hell und heiter, freundlich und festlich ist die Anmutung, und wer je in der düsteren, großgaststättenhaften Unwirtlichkeit des alten Saals eine Veranstaltung abgesessen hat, wird sich die von so viel Licht geblendeten Augen reiben. Birkenhölzer täfeln die Oberfläche, die terrakottaroten Stahlwinkel, die die Emporen tragen, klotzen, und die runden Deckenlampen dazwischen kleckern, die Bezüge der bequemen Sitze sind in verschiedenen Rottönen gestreift, und der Boden ist mit Stabparkett ausgelegt. Das viele Holz und die warmen Farben sichern dem Konzertsaal eine Kinderzimmerfröhlichkeit, die ihm eine prononcierte, kühlere Eleganz versagt.

Das neugeschaffene Foyer auf der Rückseite vermittelt den Charme eines besseren Verwaltungsgebäudes und das cremefarbene Stucco lustro seiner Wände langweilige Gediegenheit. Der zweite Eingang vom Stadtgarten, der eine Etage tiefer liegt und eine direkte Verbindung zum Aalto-Theater zieht, kann es mit dem Hauptportal und seinem Garderobentrakt, wo die erhaltene Fünfziger-Jahre-Architektur repräsentative Großzügigkeit bekundet, nicht aufnehmen, und dem Glaskubus mit vierhundert Quadratmetern Grundfläche, der als flexibler Pavillon zum Stadtgarten angesetzt wurde, mangelt es an gestalterischer Eigenständigkeit. Entlang des Saales entwickeln sich zur Huyssenallee hin die Räumlichkeiten für die Musiker mit Stimmzimmern, Garderoben, einem Künstlerfoyer und einem schön proportionierten Probensaal, für den eine Decke entfernt wurde.

Anders als das Konzerthaus in Dortmund (F.A.Z. vom 11. September 2002) ist die Philharmonie Essen kein "reiner" Musiksaal. Es dauert nur wenige Minuten, um die Grundfläche über Hubpodien auf die horizontale Foyerebene abzusenken und die Bestuhlung herauszufahren: Schon steht der Raum für andere Nutzungen - Kongresse, Galas, Bälle - bereit. So kann der Saalbau auch mit Philharmonie bleiben, was er immer war: die gute Stube der Stadt. Bereits 1864 war am gleichzeitig angelegten Stadtgarten ein spätklassizistischer Saal in Fachwerkbauweise errichtet worden, für den 285 Essener Bürger 24 225 Taler gespendet hatten. Doch die Industrialisierung ließ die Stadt schnell auf mehr als hunderttausend Einwohner wachsen, und so war er schon zur Jahrhundertwende zu klein. Wieder war es bürgerschaftliches Engagement, das, wesentlich mitgetragen von Friedrich Alfred Krupp, nach dem Abriß 1901 zur Auslobung eines Architektenwettbewerbs führte: Aus ihm ging ein prachtvoller Repräsentationsbau mit jugendstilhaften Elementen als Sieger hervor, der 1904 eröffnet und 1943 zerstört wurde. Der Wiederaufbau nach Plänen von Walter Engelhardt übernahm den alten Grundriß, gab dem Gebäude aber zur Huyssenallee mit dreigeteilten Fenstern und einem hohen Mansardendach ein kompakteres, neubarock geprägtes Aussehen.

Der Saalbau blieb als Konzertsaal auch noch beliebt, als seine Bühnentechnik längst als antiquiert galt. Doch statt einer Grundsanierung wurden alle möglichen Alternativen erörtert, und als die SPD-Mehrheit im Rat Ende 1998 beschloß, am Berliner Platz eine neue Philharmonie zu errichten und den Saalbau zur Tagungsstätte abzuwerten, brach ein Sturm der Entrüstung los, der zum Katalysator für eine Generalabrechnung mit der SPD wurde: In einem Bürgerbegehren wurden fast neunzigtausend Unterschriften gegen das Projekt gesammelt, die Ratsentscheidung wurde zurückgenommen und die SPD bei der Kommunalwahl im Herbst 1999 abgewählt.

Die alt-neue Philharmonie beschert Essen einen Quantensprung wie zuvor das Aalto-Theater, das 1988 - fast dreißig Jahre nach seinem Entwurf - fertiggestellt wurde. Knapp 75 Millionen Euro betragen die Kosten, an denen sich die Krupp-Stiftung mit dreizehn, das Land Nordrhein-Westfalen mit 8,5 und RWE mit 1,5 Millionen beteiligten: So heißt der Konzertsaal nach Alfried Krupp und der Pavillon nach RWE. Die Kommune finanziert ihren Anteil über ein Investorenmodell, mit dem sie das Grundstück 22 Jahre lang verpachtet und zurückmietet, um es danach wieder als Eigentum zu übernehmen. Oper und Konzerthaus bilden, auch architektonisch, ein ungleiches Zwillingspaar in der Stadt: Ihre Verspannung - hier die "organische Architektur" aus hellem Granit, dort die gediegene Rekonstruktion aus (noch hellerem) Kalkstein - könnte zum Kraftzentrum einer Dynamik werden, die eine schon länger positiv verlaufende Entwicklung beschleunigt.

Der Glanz des "Eröffnungszaubers" entfaltete sich erst nach den Reden. Denn weder Wolfgang Reiniger, der danksagende Oberbürgermeister, noch Peer Steinbrück, der launige Ministerpräsident, noch Michael Kaufmann, der bescheiden auftretende Intendant, fanden in ihren Ansprachen einen Ausdruck dafür, was es in diesen Zeiten bedeutet, ein solches Haus zu stemmen und anspruchsvoll zu unterhalten. Danach aber spielten die Essener Philharmoniker unter Stefan Soltesz, der lange vehement für einen Neubau plädiert hatte, inzwischen aber sehr angetan von dem Ergebnis des Umbaus ist. Doch nicht mit Bachs "Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!", nicht mit Mozarts Konzert für Klavier und Orchester c-Moll (KV 491), sondern mit einer fulminant-differenzierten Interpretation der "Alpensinfonie" von Richard Strauss schien es fast so, als sei Soltesz hier schon seit Jahren zu Hause. Auch eine Reverenz an den Genius loci, hatte der Komponist doch 1904 die Eröffnung des Saalbaus dirigiert und hier seine "Sinfonia domestica" uraufgeführt. Die Akustik, ausgetüftelt von Karl-Heinz Müller (Planegg), hat ihre Feuertaufe bestanden: Transparent und klar, fördert sie, wie zumal die Bläser hören ließen, eine vielfältige Intonation.

"Düsseldorfs Philharmonie steht in Essen", wird in der 38 Kilometer nahen Landeshauptstadt gefrotzelt. Das boshafte Bonmot hat in der Akustik der Tonhalle seine Wurzel, doch auch eine positive Spitze. Denn die Städte im Ballungsraum Rhein und Ruhr werden in diesen Zeiten, da sich der Standortwettbewerb im Kulturbereich verschärft, näher zusammenrücken und Formen kooperativer Konkurrenz entwickeln müssen. Düsseldorf ist immer noch der Schreibtisch des Ruhrgebiets, doch die Musik spielt nicht mehr nur am Rhein. Der Himmel über Essen strahlt blauer.

ANDREAS ROSSMANN

Bildunterschrift: Erheb' das trunk'ne Auge zum strahlenden Azur: Im neuen Saal der Essener Philharmonie lockt bereits die Decke mit himmlischen Tönen.

Foto Michael Kneffel

Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main